Voltaire – ein Aufklärer? Zum Begriff des Schicksals

Im Blog norberto42 habe ich Voltaires Erzählung „Zadig oder das Schicksal“ kurz vorgestellt. Bei ihrer kritischen Lektüre bekommt das Bild des Aufklärers Voltaire einige Risse:

1. Die Belehrung Zadigs durch den alten Weisen, der sich vor seinen Augen in den Engel Jesra mit vier wunderbaren Flügeln verwandelt, könnte man noch dem Kolorit der orientalischen Erzählung, welche Voltaire verfasst hat, zugute halten, obwohl seine Lehre als „Offenbarung“ für einen Aufklärer nicht unproblematisch ist.

2. Problematisch ist allerdings, wie der Engel rechtfertigt, dass er in der Gestalt des alten Mannes das Haus eines Wohltäters angezündet und den Jungen in einen Bach gestoßen hat, so dass er ertrunken ist. a) Der Besitzer des abgebrannten Hauses hat unter den Trümmern einen ungeheuren Schatz gefunden. – Konnte er den Schatz nicht auch finden, wenn das Haus nicht abgebrannt wäre? Finden alle Menschen, deren Haus abbrennt, unter den Trümmern einen Schatz? b) „Und dieser Knabe, dem die Vorsehung das Genick gebrochen hat, hätte in einem Jahr seine Tante umgebracht und in zwei Jahren euch.“ Den Einwand Zadigs, man hätte den Knaben vielleicht bessern können, kontert der Engel so: „Wäre er tugendhaft geworden und am Leben geblieben, so war es sein Los, mit seiner zukünftigen Frau und seinem Sohn ermordet zu werden.“ – Erstens wird hier ein Mord durch Verhinderung eines anderen Mordes gerechtfertigt, und zweitens ist die Vorstellung von einem schon Jahre im voraus bestimmten Schicksals („Los“, hier gleich in doppelter Ausfertigung) philosophisch eine Katastrophe und eines Aufklärers unwürdig.

3. Der Engel zieht das Fazit: „Es gibt nichts Böses auf Erden, das nicht auch gute Seiten hätte.“ Eine Welt, in der es nur Gutes gäbe, sei nicht möglich. „Du schwacher Sterblicher, laß ab, wider das zu kämpfen , was man anbeten muß.“ Da sank Zadig in die Knie, „betete zur Vorsehung und unterwarf sich“. – Da es sich um eine lehrhafte Erzählung von der Erziehung Zadigs zur Einsicht handelt, dessen Unterwerfung zum Schluss „richtig“ und vorbildlich ist, muss man hier ein dickes Fragezeichen hinter Voltaires Titel „Aufklärer“ machen; denn was hier wie eine Unterwerfung unter die göttliche Vorsehung aussieht, ist in Wahrheit Unterwerfung unter die herrschenden Verhältnisse und deren Profiteure: Unterwerfen soll man sich, nichts in Frage stellen. Da lobe ich mir Kant, der geschrieben hat, Aufklärung sei der Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit und laufe darauf hinaus, sich seines Verstandes ohne Anleitung durch einen anderen – und sei es der Engel Jesra – zu bedienen. Voltaire spielt in dieser Erzählung mit religiösen Vorstellungen von der göttlichen Vorsehung, die er sonst der Lächerlichkeit preisgibt.

Nachsatz: Wenn man Voltaires „Geschichte der Reisen Scarmentados“ liest, bekommt man ein ganz anderes Bild der Welt zu sehen. Auch in seinem Roman „Das Naturkind“ (= Der Hurone usw., 1767) widerruft Voltaire zum Schluss die Schicksalsergebenheit Zadigs.

https://also42.wordpress.com/2015/08/13/ueber-den-begriff-des-schicksals/ (Schicksal)

https://also42.wordpress.com/2020/02/11/zum-begriff-des-schicksals/ (dito)

https://www.spektrum.de/lexikon/philosophie/vorsehung/2183

http://www.luxautumnalis.de/von-der-idee-der-vorsehung/

https://de.wikipedia.org/wiki/Pr%C3%A4destination

https://www.spektrum.de/lexikon/philosophie/schicksal/1824

https://archive.org/details/wrterbuchderph02eisluoft/page/1242/mode/2up?view=theater (Eisler: Schicksal)

https://opusdei.org/de/article/thema-5-die-gottliche-vorsehung/ (stramm katholisch)

https://www.bibelwissenschaft.de/ressourcen/wibilex/altes-testament/ratschluss-gottes

https://theologe.de/praedestinationslehre.htm (kritisch)

https://www.unifr.ch/orthodoxia/de/assets/public/Lehre/FS2020%20-%20Sch%C3%B6pfung/Vorlesung_08_Vorsehung.pdf (theologisch)

Sexuelle Irritationen – Berichterstattung der SZ

Mein Leserbrief an die SZ vom 28.11.2022.

Veronika Wulf schildert in „Gefangen als Mann“ (SZ 26. November 2022, S. 10) ausführlich und wortreich die Leiden der Annemarie House im Knast – eines Mannes, der sich als Frau fühlt und jahrelang als Frau gelebt hat. Ich frage mich: Was soll mit dieser Story erreicht werden? Müssen nun Gefängnisse oder Duschen für Transgenderfrauen und -männer gebaut werden? Ist es nicht wichtiger, dass endlich gute Schulen für unsere Kinder gebaut und ein ordentlicher ÖPNV für alle eingerichtet wird?

Im Ernst: In der SZ wird den Leute mit sexuellen Eigenheiten, den Queren (Carolin Emke) und den Trans…, viel Raum für ihre Klagen zugestanden. Sie erliegt der Obsession, mit der heute das Sexuelle als vermeintliches Kriterium der Identität in den Vordergrund der Aufmerksamkeit gerückt ist. Es wäre angebracht, dass sachlich (und eventuell kontrovers) von Medizinern und Psychologen das Phänomen der sexuellen Irritation untersucht würde, statt dass dauernd die Klagen laut erschallten.

Was sind persönliche Macken, was ist unabänderliches Geschick? Viele Menschen wären gern in die Familien Quandt (Geld) oder Weizsäcker (Bildung) hineingeboren werden – wird über deren Leiden an ihrem Defizit lautstark berichtet? Ich selber bin als drittes Kind einer Kriegerwitwe ohne Vater herangewachsen: Wer berichtet vom Leben unter dem Diktat einer Mutter? Von den Leiden meiner Geschwister (Gymnasium aus Geldmangel vorzeitig verlassen, als hochintelligenter Bursche keine Lehrstelle bekommen, ohne Vater und mit wenig Geld aufgewachsen) kann man in der SZ nichts lesen. Es gibt eben Dinge, die einem schicksalhaft vorgegeben sind. Dazu gehören unter anderem: Die Familie und das Land, in denen man geboren wird; das Geschlecht; das Jahr der Geburt; die sozialen Verhältnisse im eigenen Land. Wenn man denen entfliehen will, muss man einen hohen Preis zahlen; aber man sollte dann nicht jammern – man ist schließlich dem Entschluss des eigenen Willens gefolgt. Und bei den Dingen, in denen der Staat eingreifen kann, muss man fragen: Was hat bei begrenzten Mitteln im Sinn der Allgemeinheit Vorrang?

Außerhalb des Leserbriefs:

Die Sex-Obsession ist bei den Grünen besonders ausgeprägt; so will Frau Baerbock eine feministische Außenpolitik betreiben – das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen, damit man den Unsinn darin schmeckt: Wen repräsentiert Frau B. in ihrem Amt: die Feministen? die Frauen? Deutschland? Was hat sie in ihrem Amtseid [„Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. (So wahr mir Gott helfe.)“] geschworen? Frau Baerbock soll deutsche Außenpolitik machen, nicht feministische! Schlimm ist, dass kein Satiriker solche Klopse aufgreift – sie bemerken sie nicht, weil sie vom gleichen Ungeist ergriffen sind! (Oder trauen sie sich außer Dieter Nuhr nicht, wider den Mainstream-Stachel zu löcken?)

Zum Begriff des Schicksals

KURS ANTHROPOLOGIE: Zum Begriff des Schicksals

Ich möchte die Unterrichtsmaterialien meiner Philosophiekurse einer späten Revision unterziehen und das, was über den Tag hinaus brauchbar und von Bedeutung ist, hier vorstellen.

Die Frage, ob unser Leben vom „Schicksal“ bestimmt sei, wurde öfter im Einführungskurs 11.1 gestellt; systematisch gehört sie in die Anthropologie. Den Begriff des Schicksals hat Georg Simmel in unübertrefflicher Klarheit analysiert, so dass man am besten ihn selbst zu Wort kommen lässt:

„Zunächst bedarf es eines Subjekts, welches von sich aus, und insofern unabhängig von jedem »Ereignis«, einen Sinn, eine innere Tendenz, eine Forderung enthält oder darstellt. Neben dieser Eigenrichtung des Subjekts, ohne genetische Verbindung mit ihr, entstehen und verlaufen bestimmte Ereignisse, die sich zu ihr dennoch fördernd oder hemmend verhalten, ihren Gang unterbrechen oder Entferntes verbinden, einzelne Punkte in ihr akzentuieren oder über ihre Ganzheit entscheiden. Hierdurch bekommen jene an sich bloß kausalen Geschehnisse in Bezug auf das Subjekt einen Sinn, sozusagen eine Art von nachträglicher Teleologie, d. h. sie werden zu Schicksalen. Indem sie, deren Ursprung zu dem innerlich und sinngemäß bestimmten Verlauf unseres Lebens gänzlich zufällig ist, zu diesem Verlauf eine ganz bestimmte Beziehung, eine vitale Einfügbarkeit, wenn auch von negativer und zerstörender Bedeutung, gewinnen, ist der Ton der »Prädestination« von dem, was wir unser Schicksal nennen, gar nicht zu trennen. Dennoch bedeutet er nur einen eigentlich oberflächlichen Reflex des Schicksalsbegriffes. Denn in diesem spricht sich zuallererst die Assimilationskraft des menschlichen Wesens aus: daß sich in dieses als bestimmende Elemente seines Lebens Geschehnisse einstellen, die zugleich sozusagen unbeirrt ihres objektiven Weges gehen, daß sie von der Subjektivität dieses Lebens einen Sinn, eine positive oder negative Zweckbedeutung bekommen, während andererseits eben dieses Leben von ihnen nach Richtung und Verhängnis bestimmt wird. Die Aktivität und die Passivität des Lebens in seinem tangentialen Verhältnis zu dem Weltlauf ist im Schicksalsbegriff zu einer Tatsache geworden.

Wo eines dieser Elemente ausbleibt, kommt es nicht zu einem »Schicksal«, und es mag deshalb zum Erweis seiner Formung dienen, daß wir weder dem Tier noch dem Gott ein »Schicksal« – es sei denn durch Vermenschlichung des einen oder des andern – zuschreiben. Dem Tier fehlt der Lebenssinn, die eigene ideelle Intention, der sich ein außerhalb gelegenes, rein kausales Geschehen bestimmend und doch wieder von jenem eigenen Leben bestimmt einfügen könnte. Es handelt sich beim Tier nur um das Leben überhaupt, das freilich in seinem natürlichen Sich-abspielen gefördert oder gehemmt werden kann, das aber nicht, wie mehr oder weniger jedes menschliche, von der Idee eines besonderen, von der Wirklichkeit realisierten oder gestörten Verlaufes begleitet ist. Umgekehrt, für eine göttliche Existenz bestehen keine ihr ursprünglich fremden an sich notwendigen Ereignisse, sondern wir müßten uns die Ereignisse von vornherein durch das göttliche Wesen umfasst und nach seinem Willen verlaufend denken, ohne daß erst eine Hemmung oder Förderung, die jenes von ihnen erfährt, ihre Zufälligkeit in einen Sinn zu verwandeln braucht.

Das menschliche Leben aber steht unter dem Doppelaspekt: der Kausalität, der einfachen Natürlichkeit seines Geschehens – und der Bedeutung, die, als Sinn, Wert, Zweck es überstrahlt oder durchgeistet; oder, unter anderem Gesichtswinkel: wir sind einerseits den kosmischen Bewegtheiten preisgegeben und eingeordnet, fühlen und führen aber andererseits unsere individuelle Existenz aus einem eigenen Zentrum heraus, als Selbstverantwortlichkeit und irgendwie in sich geschlossene Form.“

(Georg Simmel: Das Problem des Schicksals, 1913 – Text nach dem Druck in „Brücke und Tür, hrsg. von Michael Landmann, 1957, nicht nach http://socio.ch/sim/verschiedenes/1913/schicksal.htm; in dem Essay „Tod und Unsterblichkeit“, 1918, hat Simmel noch einmal eine „Anmerkung über den Begriff des Schicksals“ gemacht: http://www.socio.ch/sim/lebensanschauung/leb_3.htm)

In einer Klausur habe ich den Schülern einen Auszug von 60 Zeilen aus Michael Landmanns Aufsatz „Eine Lanze für das Schicksal“ (in Das Ende des Individuums, 1971, S. 208 ff.) zur Analyse vorgelegt und sie vermutlich damit überfordert. Der Kerngedanke lautet: „Daß der Mensch im einzelnen das vorgegebene verwandeln, das Entgegenstehende überwinden muß, und daß dennoch in ihnen als solchen eine Notwendigkeit und ein zu Bejahendes liegt, dies ist beides schwer zusammenzudenken. (…) In Wahrheit ist er, weil er das Wesen der Freiheit ist, auch das Wesen des Schicksals: nur bei ihm wird es produktiv. Erst das Schicksal löst die ganze Gewalt der Freiheit in ihm aus. Um der Freiheit willen muß das Schicksal sein.“

Man sollte so kluge Menschen wie Michael Landmann und vor allem Georg Simmel nicht vergessen, auch wenn ihre Gedanken gerade nicht in Mode sind.

Über den Begriff des Schicksals

Wenn im Historischen Wörterbuch der Philosophie das Stichwort „Schicksal“ in gut 14 Spalten abgehandelt wird, kann ich hier allenfalls einige Anmerkungen machen. Sie sollen dazu dienen, einen ungeklärten Begriff zu erhellen, der im Bewusstsein vieler Zeitgenossen oder in dessen Hintergrund eine Rolle spielt. Ehe man pauschal behauptet, es gebe ein Schicksal oder auch nicht, soll also geklärt werden, was mit diesem Begriff überhaupt gemeint ist oder gemeint sein kann. Ich referiere zunächst Gedanken Georg Simmels, eines bedeutenden akademischen Außenseiters im späten Kaiserreich.
In seinem Aufsatz „Tod und Unsterblichkeit“ (in: Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel. 1922 in der 2. Auflage) behandelt Georg Simmel (1858 – 1918) den Begriff des Schicksals als ein Pendant zum Begriff der Unsterblichkeit der Seele. Er nimmt an, dass das Ich (die Persönlichkeit) sich in seinem Eigenverlauf gegenüber der Welt konstituiert; diese Zweiheit von eigen-willigem Ich und un-williger Welt werde in der Vorstellung von der unsterblichen Seele aufgehoben, weil dieser keine Welt mehr gegenüberstehe.
Das Gleiche leiste der Begriff eines Schicksals, welches das Leben beherrscht. Simmel stellt dem eigen-willigen und eigen-sinnigen Subjekt die Ereignisse gegenüber, welche auf das Subjekt einwirken, hemmend oder fördernd. Dadurch bekommen diese zunächst sinn-losen Weltereignisse für das Subjekt einen Sinn. Sie bekommen ihn in dessen Sicht – sie fördern oder behindern die Entfaltung des Subjekts; sie „haben“ ihn also nicht von sich aus.
Damit ist der Begriff des Schicksals fertig: „daß eine rein kausal abrollende Reihe des objektiven Geschehens sich in die subjektive Reihe eines im übrigen von innen her bestimmten Lebens verflicht“ und so einen Bezug auf das Subjekt bekommt – „als wäre“ dieses nach fremden Bestimmtheiten Ablaufende „doch irgendwie auf die Beziehung zu unserem Leben angelegt“ (a.a.O., S. 120). In einem klassischen Tier-Gott-Vergleich verdeutlicht Simmel, was er meint. Ein Tier habe keinen eigenen Lebenssinn, für den Gott gebe es keine ihm äußere Welt. Nur dem Menschen komme beides zu. „Indem wir nun etwas als Schicksal betrachten, heben wir die reine Zufälligkeit zwischen beiden auf.“ (S. 120 f.)
Abschließend zeigt er, was dieser Schicksalsbegriff impliziert:
1. Es gibt eine Schwelle der Bedeutsamkeit der Ereignisse, unterhalb derer von so etwas wie Schicksal überhaupt nicht die Rede sein kann.
2. Etwas zunächst Bedeutungsloses kann schicksalhaft werden, wenn sich später herausstellt, dass es Ausgangspunkt einer tief greifenden Lebenswendung geworden ist.
3. Ob diese Wendung eintreten kann, darüber entscheidet „die Gerichtetheit der inneren Lebensströmung“ (S. 122).
Ich möchte ergänzen: Was die Richtung der inneren Lebensströmung verändert oder kanalisiert, ist ebenfalls als schicksalhaft zu bezeichnen. Diesen Gedanken kann man an einem tiefsinnigen Aphorismus Friedrich Nietzsches vorführen, „Unsere Lehrer“ (Morgenröte, § 495): In der Jugend nehme man seine Lehrer, wie man sie gerade findet, als genau für einen selbst taugend, „ohne viel zu suchen. Für diese Kinderei muß man später hartes Lösegeld zahlen: man muß seine Lehrer an sich abbüßen. Dann geht man wohl nach den rechten Wegweisern suchen in der ganzen Welt herum, die Vorwelt eingerechnet, – aber es ist vielleicht zu spät. Und schlimmstenfalls entdecken wir, daß sie lebten, als wir jung waren, – und daß wir uns damals vergriffen haben.“
Mit einer anderen, der verbreiteten Ausprägung des Schicksalsbegriffs befasst sich Michael Landmann (1913 – 1984); philosophisch denkt er in der Tradition G. Simmels, also der Lebensphilosophie. Der Aufsatz „Eine Lanze für das Schicksal“ steht in dem Sammelband „Das Ende des Individuums“ (Klett 1971, S. 208 ff.). – Landmann skizziert zunächst den Kampf der aufklärenden Vernunft gegen alles, was unser Leben erschwert, was uns niederdrückt; der vernünftige Mensch wolle seine Freiheit gewinnen, indem er das in der Welt Begegnende zu seinem Wohl gestaltet und umgestaltet. Schicksal ist dann der Inbegriff dessen, „wogegen alle Aufklärung antritt und dessen Macht sie brechen will“ (S. 208).
Wenn das Vertrauen in die Möglichkeit, die Welt zu gestalten, jedoch sinkt, dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder immunisieren die Menschen sich gegen das real Unanfechtbare (wie die Stoiker), indem sie den wahren Menschn ganz nach innen verlegen; oder sie resignieren offen und glauben an die Macht des unvorhersehbar und unabwendbar Hereinbrechenden: des Schicksals.
Zwischen dem Glauben an die Allmacht der Vernunft und der Resignation vor dem Schicksal will Landmann einen Mittelweg als den richtigen einschlagen: „Daß der Mensch im einzelnen das Vorgegebene verwandeln, das Entgegenstehende überwinden muß, und daß dennoch in ihnen als solchen eine Notwendigkeit und ein zu Bejahendes liegt, dies ist beides schwer zusammenzudenken.“ (S. 210) Dies sei schon deshalb richtig, weil unsere Vernunft nicht autonom ist, sondern sich auch der Welt verdankt. Wir erfüllen unser menschliches Wesen sowohl in Akten der Freiheit oder Befreiung wie auch als an der Welt Teilhabende, als Empfangende. Prototyp dieses ambivalenten Weltverhältnisses sei der Künstler.
Dennoch bleibt für Landmann der Kampf gegen Feindseliges zu Recht bestehen – als challenge, als Herausforderung. „Erst die Auseinandersetzung mit einem äußeren Widerstand weckt und steigert zu seiner Brechung neue innere Kräfte.“ (S. 211) Auch in der Erkenntnis werde Einsicht oft erst unter großem Druck erworben; ohne die Härte des Schicksals gebe es insgesamt nichts Neues. Innere Freiheit des Menschen könne durch äußere Not in Gang gebracht werden: „In Wahrheit ist er, weil er das Wesen der Freiheit ist, auch das Wesen des Schicksals: nur bei ihm [nicht beim Tier noch beim Gott, N.T.] wird es produktiv. Erst das Schicksal löst die ganze Gewalt der Freiheit in ihm aus.“ (S. 213)
Dies gelte aber nur bei gemäßigtem Druck von außen. Zu großer Druck setze das Innere nicht frei, sondern fixiere einen auf die äußere Not; zu geringer Druck lasse das Krankhafte und Destruktive aus dem Innern hervorbrechen. Aus Zwischenphasen der Geruhsamkeit ziehe es daher den Starken zur angespannten Situation zurück, und im Rückblick seien wir für sie dankbar.
Robert Menasse hat es unternommen, die aufklärerische Frage nach der Freiheit vom Schicksal unter den Bedingungen der Globalisierung neu zu denken; so werde die Herrschaft einer Dingwelt bezeichnet, der sich nicht nur der einzelne Mensch, sondern auch die Gattung zu unterwerfen habe. Das europäische Denken in Alternativen sei in der blinden Bejahung der absoluten Herrschaft von Sachzwängen untergegangen. Der sei heute zunächst die F r a g e nach der Notwendigkeit der Notwendigkeiten entgegenzustellen. (Robert Menasse: Freiheit oder Schicksal. SZ vom 29.11. 2003, S. 15)
Der Gedanke von der Bedeutung der Herausforderung (challenge) für die gute Lebensführung findet sich bei Landmann übrigens auch in seinen Ausführungen darüber, dass man gerade dann enttäuscht ist, wenn man ein Ziel erreicht hat (Melancholien der Erfüllung, in: Anklage gegen die Vernunft. 1976, S. 208 ff.). – Ich möchte noch auf einen Vortrag Odo Marquards hinweisen (Ende des Schicksals? Einige Bemerkungen über die Unvermeidlichkeit des Unverfügbaren), der 1977 und dann in seiner Aufsatzsammlung „Abschied vom Prinzipiellen“ (Reclam 1981, S. 67 ff.) im Druck erschienen ist. – Zur Abrundung von Simmels Gedanken sind übrigens Goethes Gedichte „Urworte. Orphisch“ geeignet.
Dass sich für einen „Philosophen“, auch wenn er das Schicksal als gegeben anerkennt, Kaffeesatzlesen, Horoskopstudium und Pendelschwingen von selbst verbieten, braucht wohl nicht erwähnt zu werden. „Im Haus des Austrägers von Tour / Man findet die Briefe auf der Tafel…“ (so IX, 1 in der Übersetzung von Eduard Rösch, 1849). Oder hat der Meister dort Folgendes geschrieben: „In dem Haus wird abgestützt werden der Führer des Geldbeutels. Man wird haben die Bildung entdeckt – fünf ist unter dem Tisch.“ So hat Manfred Dimde 1994 die gleiche Stelle gelesen. Was hat Nostradamus gemeint? Vermutlich wusste er es selber nicht!
Etwas anderes als dieses determinierte Schicksal sind die Trends, die manche Fachleute (ganz hochtrabend: Futurologen) zu erkennen glauben. Aber auch wie man mit diesen Trends umgehen soll, ist schwer zu sagen: Soll man im Strom des Trends mitschwimmen und Maschinenbau studieren? Dann kommen solche Prozesse wie der Schweinezyklus heraus: Preise hoch -> Schweinezucht blüht -> Preise fallen -> Schweinezucht schrumpft -> Preise steigen -> Schweinezucht erblüht neu -> Preise fallen -> … Oder soll man sich antizyklisch orientieren? Also in Zeiten fallender Preise Schweine züchten, damit man vom nächsten zu erwartenden Preisauftrieb profitiert?
Damit verbunden ist die Frage nach der Macht der Prophezeihung, also der self-fulfilling prophecy: Die Prophezeihung wird genau deshalb wahr, weil alle (oder genügend Menschen oder die „richtigen“ Menschen) glauben, dass sie eintreten wird, und dementsprechend sich verhalten! Aber welche Prophezeihung erfüllt sich, weil sie geglaubt wird? Wenn man das vorher wüsste, wäre man klüger als die anderen und ihnen im Ausnutzen von Chancen überlegen. Ja, wenn das Wörtchen „wenn“ nicht wäre!

Was ergibt sich aus alledem? Fürs eigene Handeln nichts – die Vernunft schaut zurück, sie erhebt sich wie die Eule der Minerva erst am Abend zum Flug. Unserm Handeln wohnen wesentlich Momente des Entscheidens inne, die sich der Vernunft entziehen.