Voltaire – ein Aufklärer? Zum Begriff des Schicksals

Im Blog norberto42 habe ich Voltaires Erzählung „Zadig oder das Schicksal“ kurz vorgestellt. Bei ihrer kritischen Lektüre bekommt das Bild des Aufklärers Voltaire einige Risse:

1. Die Belehrung Zadigs durch den alten Weisen, der sich vor seinen Augen in den Engel Jesra mit vier wunderbaren Flügeln verwandelt, könnte man noch dem Kolorit der orientalischen Erzählung, welche Voltaire verfasst hat, zugute halten, obwohl seine Lehre als „Offenbarung“ für einen Aufklärer nicht unproblematisch ist.

2. Problematisch ist allerdings, wie der Engel rechtfertigt, dass er in der Gestalt des alten Mannes das Haus eines Wohltäters angezündet und den Jungen in einen Bach gestoßen hat, so dass er ertrunken ist. a) Der Besitzer des abgebrannten Hauses hat unter den Trümmern einen ungeheuren Schatz gefunden. – Konnte er den Schatz nicht auch finden, wenn das Haus nicht abgebrannt wäre? Finden alle Menschen, deren Haus abbrennt, unter den Trümmern einen Schatz? b) „Und dieser Knabe, dem die Vorsehung das Genick gebrochen hat, hätte in einem Jahr seine Tante umgebracht und in zwei Jahren euch.“ Den Einwand Zadigs, man hätte den Knaben vielleicht bessern können, kontert der Engel so: „Wäre er tugendhaft geworden und am Leben geblieben, so war es sein Los, mit seiner zukünftigen Frau und seinem Sohn ermordet zu werden.“ – Erstens wird hier ein Mord durch Verhinderung eines anderen Mordes gerechtfertigt, und zweitens ist die Vorstellung von einem schon Jahre im voraus bestimmten Schicksals („Los“, hier gleich in doppelter Ausfertigung) philosophisch eine Katastrophe und eines Aufklärers unwürdig.

3. Der Engel zieht das Fazit: „Es gibt nichts Böses auf Erden, das nicht auch gute Seiten hätte.“ Eine Welt, in der es nur Gutes gäbe, sei nicht möglich. „Du schwacher Sterblicher, laß ab, wider das zu kämpfen , was man anbeten muß.“ Da sank Zadig in die Knie, „betete zur Vorsehung und unterwarf sich“. – Da es sich um eine lehrhafte Erzählung von der Erziehung Zadigs zur Einsicht handelt, dessen Unterwerfung zum Schluss „richtig“ und vorbildlich ist, muss man hier ein dickes Fragezeichen hinter Voltaires Titel „Aufklärer“ machen; denn was hier wie eine Unterwerfung unter die göttliche Vorsehung aussieht, ist in Wahrheit Unterwerfung unter die herrschenden Verhältnisse und deren Profiteure: Unterwerfen soll man sich, nichts in Frage stellen. Da lobe ich mir Kant, der geschrieben hat, Aufklärung sei der Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit und laufe darauf hinaus, sich seines Verstandes ohne Anleitung durch einen anderen – und sei es der Engel Jesra – zu bedienen. Voltaire spielt in dieser Erzählung mit religiösen Vorstellungen von der göttlichen Vorsehung, die er sonst der Lächerlichkeit preisgibt.

Nachsatz: Wenn man Voltaires „Geschichte der Reisen Scarmentados“ liest, bekommt man ein ganz anderes Bild der Welt zu sehen. Auch in seinem Roman „Das Naturkind“ (= Der Hurone usw., 1767) widerruft Voltaire zum Schluss die Schicksalsergebenheit Zadigs.

https://also42.wordpress.com/2015/08/13/ueber-den-begriff-des-schicksals/ (Schicksal)

https://also42.wordpress.com/2020/02/11/zum-begriff-des-schicksals/ (dito)

https://www.spektrum.de/lexikon/philosophie/vorsehung/2183

http://www.luxautumnalis.de/von-der-idee-der-vorsehung/

https://de.wikipedia.org/wiki/Pr%C3%A4destination

https://www.spektrum.de/lexikon/philosophie/schicksal/1824

https://archive.org/details/wrterbuchderph02eisluoft/page/1242/mode/2up?view=theater (Eisler: Schicksal)

https://opusdei.org/de/article/thema-5-die-gottliche-vorsehung/ (stramm katholisch)

https://www.bibelwissenschaft.de/ressourcen/wibilex/altes-testament/ratschluss-gottes

https://theologe.de/praedestinationslehre.htm (kritisch)

https://www.unifr.ch/orthodoxia/de/assets/public/Lehre/FS2020%20-%20Sch%C3%B6pfung/Vorlesung_08_Vorsehung.pdf (theologisch)