Thomas Nagel: Moralische Kontingenz (Moral Luck, 1976), in Nagel: Letzte Fragen, Bodenheim 1996, S. 45 ff. (auch unter dem Titel: Glück gehabt! Zufall als moralisches Problem)
A) Erste Klärung des Begriffs Kontingenz
1. Anthropologisch wird Kontingenz als Unverfügbarkeit verstanden. Bestimmte Ereignisse können wir nicht beeinflussen. Sie sind ein Widerfahrnis. (Wikipedia)
2. […] Im logischen Sinne bezeichnet Kontingenz zunächst das Nicht-Notwendige, d. h. dasjenige, was sein, aber auch nicht sein kann. Hinter der logischen Problematik steht aber die naturphilosophische und metaphysische: Das, was möglich ist, muss nach dem Vermögen beurteilt werden, etwas zu tun oder zu sein. Das Kontingente (das Zufällige) steht dem Seinsrang nach hinter dem Notwendigen zurück, weil es unfest und nicht vorhersagbar ist. Es tritt bald in dieser, bald in jener Gestalt auf und kann nicht auf Gesetze zurückgeführt werden. Die Aussagen über Kontingentes in der Zukunft (z. B.: ›Morgen ist eine Seeschlacht‹) können nicht einmal als wahr oder falsch bestimmt werden.
In der Natur zeichnet sich das Kontingente dadurch aus, dass es zunächst und zumeist stetig ist (z. B. Hitze im Sommer), aber auch die Ausnahmen (Schneefall im August) gestattet. In der Metaphysik steht die Kontingenz ganz im Bereich des Möglichkeitsproblems. […] (Andreas Preussner, in: Online-Wörterbuch Philosophie http://www.philosophie-woerterbuch.de/online-woerterbuch/)
3. im allgemeinen philosophischen Sprachgebrauch die Zufälligkeit im Gegensatz zur Notwendigkeit. – Anthropologisch meint Kontingenz, dass es dem Menschen unmöglich ist, über das Eintreten bestimmter Ereignisse zu verfügen, sie gehört also zu den menschlichen Grunderfahrungen. (Schülerduden Die Philosphie, 1985, S. 228)
B) Referat der Gedanken Nagels
Nagel sieht ein unlösbares Problem durch die Kontingenz verursacht: In einer moralischen Bewertung beziehen wir uns auf den Menschen selbst. Aber moralische Wertungen geraten ins Wanken durch die Entdeckung, „dass jemandes Handlung oder seine persönlichen Eigenschaften, egal wie gut oder schlecht, nicht unter seiner Kontrolle stehen“ (S. 46). Auf eine moralische Bewertung von Menschen will Nagel aber nicht verzichten.
Nagel sieht vier Bereiche, in denen sich die Kontingenz des Handelns zeigt: in der Unklarheit, wie die eigenen Handlungen ausgehen (S. 50 ff.); in der eigenen inneren Konstitution begründet (Charakter, S. 55 ff.); in den eigenen Umständen des Lebens begründet (S. 57 f.); in der Art begründet, wie man durch vorausliegende Umstände bestimmt wird (S. 58 f.).
Um seine Überlegungen nur an zwei der von ihm diskutierten Beispiele zu zeigen: Ein LKW-Fahrer hat aus Nachlässigkeit seine Bremsen nicht überprüft; wenn er dann wegen defekter Bremsen ein Kind, das ihm vors Auto läuft, überfährt, ist er moralisch stärker zu verurteilen als sein Kollege, der sein Auto genauso wenig kontrolliert hat, aber zufällig niemanden überfährt. (S. 50 f.) Oder Washington und seine Kameraden wären schuldig geworden, wenn ihr Aufstand (mitsamt den dadurch gefallenen Bürgern) nicht erfolgreich gewesen wäre; der erfolgreiche Aufstand lässt sie als unschuldige Helden erscheinen (S. 52).
Alles das, was zur Erklärung der Kontingenz angeführt wird, gewinnen wir nach Nagel in einer externen Perspektive (S. 62). Der Begriff des aktiven Selbst, an dessen Existenz die Möglichkeit von Schuld und moralischer Beurteilung gebunden ist, kennen wir dagegen aus der Innenperspektive; diese Sicht übertragen wir dann auch auf die anderen, wenn wir sie beurteilen (S. 61 f.). Es gibt also den Unterschied zwischen dem, was jemand tut, und dem, was bloß geschieht; und die moralische Wertung trifft immer die Person selbst (S. 60). Wir haben hier ein unlösbares Problem (61) – Kants Rekurs auf den bloßen guten Willen lässt Nagel nicht gelten (S. 45 f.).
C) Kritik
Ich kann aus mehreren Gründen Nagel nicht folgen. Von den beiden LKW-Fahrern kann man nicht sagen, dass der eine böser als der andere ist; Fahrlässigkeit hat in einem Fall zu einem schlimmen Ereignis geführt, dafür wird der Fahrer strafrechtlich belangt – aber ihm wird dabei die bereits genannte Fahrlässigkeit zugebilligt, nicht Bosheit vorgeworfen.
Von den Revolutionären wie Washington möchte ich auch nicht sagen, dass sie im Fall des Scheiterns böse gewesen wären, wegen des Gelingens aber gute Menschen sind. An der moralischen Qualität der Revolutionäre ändert der Erfolg nichts; im Fall des Scheiterns hätte man ihnen höchstens militärische oder politische Fehler vorwerfen können, aber nicht moralisches Versagen.
Am radikalsten ist mein Einwand gegen das moralische Bewerten überhaupt. Ich halte es für richtig, Handlungsweisen zu bewerten (Kinder überfahren …); aber wie weit die Handlungsweise mitsamt ihren Folgen einem Menschen als dessen eigenste Handlung zuzurechnen ist, ist eine andere Frage. Die BILD hat keine Hemmung, den Menschen zu verurteilen; wir sollten vorsichtiger sein. – Der HERR selber sagte (laut AT) zu Samuel: „Der Mensch sieht, was vor den Augen ist, der Herr aber sieht das Herz.“ (1 Sam 16,7) Unabhängig davon, ob jemand annimmt, dass der HERR überhaupt etwas sagt, billige ich dieses Wort als Warnung vor einem letzten Urteil über den Menschen selber, wie es Nagel bei seinem moralischen Urteilen vorzuschweben scheint.
Man lese die Abhandlung über Forensische Psychologie (www.uni-salzburg.at/pls/portal/docs/1/347088.PDF), dort S. 14 ff.: Von der Individualisierung zur Typologisierung von Täterprofilen