F. Afshar: Der Kampf mit dem Drachen – beobachtet

Afshars Buch „Der Kampf mit dem Drachen“ (1990, zusammen mit Eva Gerber und Peter Schädelin), sein einziges Buch, beginnt mit zwei elementaren Definitionen:

1. Primärantinomie: „Die Subjekt/Objekt-Beziehung ist die Primärantinomie, der grundlegende Gegensatz, in der sozialen Realität. Sie ist lediglich die erkenntnistheoretische Formulierung für die Tatsache, dass alle Beziehungen Machtbeziehungen sind.“ (S. 13)

Wenn alle Beziehungen „Machtbeziehungen“ sein sollen, verliert der Begriff seinen Sinn. Machtbeziehungen müssen von anderen Beziehungen abgrenzbar sein, sonst kann man sie nicht denken. Den Begriff Primärantinomie gibt es sonst nicht, die Suche führt einen zur Seite http://mj-arte.ch/mj-texte/A/afshar.htm, wo es eine große Übersicht über das Buch gibt.

2. Primärwiderspruch: „Der Tod bildet die erste und grundlegende Prämisse der Sozio-logie. Er ist der Primärwiderspruch des Lebens […]: das Individuum stirbt, während das Kollektiv fortbesteht. Durch Institutionen garantiert das Kollektiv Kontinuität über den individuellen Tod hinaus. Der individuell erfahrbare Tod wird kollektiv aufgefangen.“ (S. 12)

Abgesehen davon, dass „der Tod“ nicht Prämisse sein kann (Prämisse kann höchstens ein Satz sein: Alle Lebewesen sterben), erkenne ich hier auch keinen Widerspruch; es ergibt sich höchstens die Folgerung, dass ein Kollektiv kein Lebewesen ist. Den Begriff „Primärwiderspruch“ gibt es sonst nur in der Theorie Mao Zedongs, siehe Artikel „Widerspruchstheorie“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Widerspruchstheorie) in der Wikipedia, allerdings in anderer Bedeutung.

Afshar geht also von Begriffen bzw. Konzepten aus, die er nicht mit seinen Kollegen teilt. Dementsprechend ist das Buch von den Kollegen auch praktisch nicht zur Kenntnis genommen worden, wiewohl der Titel vom Kampf mit dem Drachen (= gesellschaftliche Zwänge) nicht schlecht klingt

Das von ihm propagierte Hauptanliegen der Soziologie, „ein Leben in einer sinnvollen gesellschaftlichen Ordnung [zu] ermöglichen“ (S. 5), hört sich gut an, ist aber äußerst problematisch: Woher weiß denn die Soziologie (oder der einzelne Soziologe), wie eine sinnvolle gesellschaftliche Ordnung aussieht? Und was man tun muss, um sie auch zu verwirklichen? Hier wird unter dem Deckmantel der Wissenschaft ein nicht legitimiertes politisches Mandat vom großen Sozio-logie-Wissenden beansprucht.

Sein Postulat bezüglich der Soziologie, sie müsse Modelle mit Handlungsrelevanz bilden, führt zur These: „Modelle, deren Komplexität nicht auf ein operationales Maß reduzierbar sind, sind für Interventionen ungeeignet.“ (S. 23) Maßstab des Intervenierens sind die nach Fromm gebildeten Begriffe Biophilie – Nekrophilie: Biophilie „misst den Grad, in dem die Entfaltung des Lebens ermöglicht wird“ (S. 405), Nekrophilie „misst den Grad, in dem die Entfaltung des Lebens beeinträchtigt wird“ (S. 412). Diese Unterscheidung, die sich so schön anhört, zerbricht schon bei der ersten Prüfung, weil es „das Leben“ nicht gibt; es gibt nur dein und mein Leben und das jedes einzelnen Lebewesens. Fragen wir also ganz simpel: Schweinefleisch essen, ermöglicht das die Entfaltung des Lebens? Es ermöglicht mir die Entfaltung, aber nicht dem Schwein. Häftlinge foltern, ermöglicht das die Entfaltung des Lebens? Es ermöglicht den Herrschenden und ihren Agenten ihre Entfaltung, den Häftlingen aber nicht [es sei denn, man begänne, nun auch Entfaltung zu definieren… – aber in wessen Interesse?]. Das schöne von Erich Fromm entlehnte Kriterium des Guten erweist sich als bloßes Geschwätz, als eine leere Worthülse.

Es lohnt nicht, sich theoretisch weiter mit Afshars Buch auseinanderzusetzen. Interessant wird es jedoch, wenn man Afshars Konzept nach seinen praktischen Auswirkungen befragt. Dazu muss man „Farhad Afshar“ in der Suchmaschine eingeben; dann findet man in der Wikipedia unter seinem Namen (aufgerufen am 15.07.2017): Laut der NZZ am Sonntag vertritt Afshar «einen konservativen Islam», bleibt dabei aber oft unkonkret in den Forderungen.Er vertritt dabei die Position, dass für Christen, Hindus, Muslime, Juden etc. verschiedene Teilrechtssysteme gemäß den Religionsschriften gelten sollen. Für Muslime befürwortet er daher auch die Übernahme des Scharia-Rechts – «mit gewissen Anpassungen an die Schweiz».“ Die NZZ kommentiert sein Auftreten kritisch (https://www.nzz.ch/schweiz/muslime-farhad-afshar-ld.137856), andere sehen ihn noch kritischer (http://www.frei-denken.ch/de/2012/05/farhad-afshar-konstruiert-ein-feinbild-sakularitat/ oder http://archiv.onlinereports.ch/2005/AfsharFarhadPortraet.htm).

So, und nun kommt es darauf an, sein leichtfertiges Schreiben und sein religionspolitisches Agieren im Zusammenhang zu sehen: Da gibt es keinen Grundwiderspruch.