Cohen: Das Problem des Protagoras (Rätsel 3)

Dies ist das aus der Antike überlieferte Problem, dass eine Abmachung zwischen Protagoras und seinem Schüler Euathlos getroffen worden ist (Euathlos braucht für die Ausbildung zum Anwalt erst zu zahlen, wenn er seinen ersten Prozess gewinnt) und dass nun vor Gericht der Streit ausgetragen werden soll, ob er zahlen muss, wenn (obwohl/weil) er überhaupt keine Prozesse führt.

Die Überlegung des Protagoras wird vor dem Gerichtsprozess angestellt: „Wenn Euathlos den jetzigen Prozess gewinnt, muss er trotzdem [aufgrund der Abmachung] zahlen; wenn er ihn verliert, muss er ebenfalls [aufgrund des Gerichtsurteils] zahlen – er muss also in jedem Fall zahlen.“ Euathlos stellt die entgegengesetzte Überlegung an: Wenn ich gewinne, hat das Gericht entschieden; wenn ich vor Gericht verliere, gilt die alte Abmachung. Martin Cohen fragt: „Wer aber begeht den Denkfehler?“

Ich antworte: Niemand begeht einen Denkfehler, oder beide, weil sie nicht scharf genug denken (und formulieren):
1. Das Problem entsteht aus der Unschärfe der Abmachung; gemeint ist ja wohl, dass Euathlos zahlen muss, wenn er als Anwalt eines Mandanten seinen ersten Prozess gewinnt. Hätte man das, was man meint, gesagt, entstände das Problem nicht, weil Euathlos im Prozess gegen Protagoras primär Partei, aber nicht Anwalt eines Mandanten ist; es ist ein Scheinproblem, das aus der unscharfen Formulierung einer Bedingung („wann zahlen?“) entsteht.
2. Das Problem entsteht aus der Konkurrenz zweier Instanzen, einer privaten Abmachung (Vertrag) und einem erwarteten Gerichtsurteil; wenn man das Gericht über die Abmachung informierte, müsste es gemäß einer strengen Lesart der Abmachung entscheiden: „Euathlos braucht wegen der Abmachung der beiden Herren nicht zu zahlen, weil er noch nie als Anwalt eines Mandanten tätig war.“

Ein philosophisches Problem ist kaum erkennbar – höchstens die Forderung, Abmachungen präziser zu formulieren (und dem Gericht alle relevanten Abmachungen mitzuteilen). Der Richter hat übrigens die Entscheidung vertagt. Cohen sieht keine Lösung, sondern nur einen unauflösbaren Widerspruch in der Logik.
Nach W. Poundstone (Im Labyrinth des Denkens, 5. Aufl. 2002, S. 199) tritt der Schüler Euathlos vor Gericht als sein eigener Anwalt auf („dieser vertrat seinen Fall selbst“); damit wäre Euathlos in die Situation versetzt worden, die er vermeiden wollte: einen Prozess als Anwalt (aber nicht eines Mandanten!) führen zu müssen. [Beide handeln unfair, Euathlos, weil er sich vor eigentlich zu erwartenden Berufstätigkeit drückt, und ein wenig auch Protagoras, weil er Euathlos in eine für diesen verzwickte Situation bringt.] Poundstone rechnet das Problem zur Sorte der Paradoxa, die durch Bertrand Russells Barbierparadox (siehe Rätsel Nr. 4) bekannt geworden ist: Mengen, die sich selbst enthalten.

http://de.wikipedia.org/wiki/Sophismus_des_Euathlos Sophismus, Paralogismus

http://www.philolex.de/krokschl.htm Trugschlüsse, Antinomien

http://www.zeno.org/Kirchner-Michaelis-1907/A/Antistr%C3%A9phon (Fachbegriff: Antistrephon)

http://www.florian-roth.com/texte/pdfs/Protagoras.pdf (zu Protagoras, nicht zur Paradoxie)