Hans Vaihinger: Philosophie des „Als ob“

Alle Überzeugungen nun, welche in der Philosophie des Als Ob zum Ausdruck gebracht werden oder ihr zugrunde liegen oder sich aus ihr ergeben, fasse ich zum Schlusse in folgenden Thesen zusammen.

1. Die philosophische Analyse führt erkenntnistheoretisch in letzter Linie auf Empfindungsinhalte, psychologisch auf Empfindungen, Gefühle und Strebungen bzw. Handlungen. Auf einen anderen Wirklichkeitsbegriff führt die naturwissenschaftliche Analyse, auf Massen und deren kleinste Teile und deren Bewegungen. Es ist dem Verstände als solchem naturgemäß unmöglich, diese beiden Wirklichkeitssphären in ein rationales Verhältnis zu bringen, die aber in der Anschauung und im Erleben eine harmonische Einheit bilden.

2. Die wahrscheinlich schon in den elementarsten physischen Vorgängen vorhandenen Strebungen summieren sich in den organischen Wesen zu Trieben, die sich schon bei den höheren Tieren, vollends aber bei den aus den Tieren entstandenen Menschen zum Willen und zum Handeln entwickeln, das sich in Bewegungen äußert und durch Reize bzw. durch die durch Reize entstandenen Empfindungen hervorgerufen wird.

3. Dem Willen zum Leben und zum Herrschen dienen als Mittel die Vorstellungen, Urteile und Schlüsse, also das Denken. Das Denken ist somit ursprünglich nur ein Mittel im Kampf ums Dasein und insofern nur eine biologische Funktion.

4. Es ist eine allgemeine Naturerscheinung, daß Mittel, die einem Zwecke dienen, öfters eine stärkere Ausbildung erfahren, als es nötig wäre zur Erreichung ihres Zweckes. Dann können solche Mittel, je stärker sie selbst als solche ausgebildet werden, sich von ihrem Zwecke ganz oder zum Teil emanzipieren und sich als Selbstzwecke etablieren (Gesetz der Überwucherung des Mittels über den Zweck).

5. Diese Überwucherung des Mittels über den Zweck ist auch eingetreten bei dem Denken, das im Laufe der Zeit sich immer mehr von seinem ursprünglichen praktischen Zwecke entfernt hat und schließlich als theoretisches Denken um seiner selbst willen ausgeübt wird.

6. Infolgedessen stellt sich dieses anscheinend unabhängige, anscheinend ursprünglich theoretische Denken Aufgaben, die nicht bloß dem menschlichen Denken, sondern jedem Denken überhaupt unmöglich sind, z. B. die Fragen nach dem Ursprung und nach dem Sinn der Welt. Hierher gehört auch die Frage nach dem Verhältnis von Empfindung und Bewegung, populär gesprochen von Seelischem und Materiellem.

7. Solche aussichtslosen, streng genommen auch einsichtslosen Fragen sind nicht nach vorwärts, sondern nur nach rückwärts aufzulösen, indem man zeigt, wie diese Fragen psychologisch in uns entstanden sind. Solche Fragen sind zum Teil so sinnlos, wie z. B. die Frage nach der|/ -1 [Wurzel aus -1].

8. Wenn man die Annahme einer ursprünglichen theoretischen Vernunft als eines eigenen menschlichen Vermögens mit eigenen eben für dies Vermögen bestimmten Aufgaben als Intellektualismus oder als Rationalismus bezeichnet, so ist das hier Vorgetragene als Antirationalismus oder auch als Irrationalismus zu bezeichnen, in demselben Sinne, in welchem die Geschichte der neueren Philosophie, z.B. von Windelband, von „idealistischem Irrationalismus“ spricht.

9. Von diesem Standpunkte aus erscheinen alle Denkvorgänge und Denkgebilde von vornherein nicht als in erster Linie rationalistische, sondern als biologische Phänomene.

10. Viele Denkvorgänge und Denkgebilde zeigen sich nun unter dieser Beleuchtung als bewußt falsche Annahmen, die entweder der Wirklichkeit widersprechen oder sogar in sich selbst widerspruchsvoll sind, die aber absichtlich so gemacht werden, um durch diese künstliche Abweichung Schwierigkeiten des Denkens zu überwinden und auf Umwegen und Schleichwegen das Denkziel zu erreichen. Solche künstliche Denkgebilde heißen wissenschaftliche Fiktionen, die durch ihren Als-Ob-Charakter sich als bewußte Einbildungen kennzeichnen.

11. Die so entstehende Als-Ob-Welt, die Welt des „Irrealen“, ist ebenso wichtig, ja, für das Ethische und Ästhetische viel wichtiger, als die Welt des im gewöhnlichen Sinne des Wortes sog. Wirklichen oder Realen. Jene ästhetische und ethische Als-Ob-Welt, die Welt des Irrealen, wird für uns schließlich zu einer Welt der Werte, die sich, besonders in der Form einer religiösen Welt, der Welt des Werdens in unserer Vorstellung schroff gegenüberstellt.

12. Was wir gewöhnlich das Wirkliche nennen, besteht aus unseren Empfindungsinhalten, die sich uns mit größerer oder geringerer Unwiderstehlichkeit gewaltsam aufdrängen, und als Gegebenheiten von uns für gewöhnlich nicht abgewiesen werden können.

13. In diesen gegebenen Empfindungsinhalten (zu denen auch das gehört, was wir unseren Körper nennen) herrscht eine Fülle von Regelmäßigkeiten in Koexistenz und Sukzession, deren Erforschung den Inhalt der Wissenschaften bildet. Vermittelst derjenigen Empfindungsinhalte, die wir unseren Körper nennen, können wir auf die reiche Welt der übrigen Empfindungsinhalte einen mehr oder minder großen Einfluß ausüben.

14. In dieser Welt zeigen sich uns einerseits überaus viele Zweckmäßigkeitsbeziehungen, andererseits überaus vieles Unzweckmäßige. Das müssen wir hinnehmen, so wie es ist, denn nur Weniges können wir ändern. Für viele ist es eine befriedigende Fiktion, die Welt so zu betrachten, als ob ein vollkommener höherer Geist sie geschaffen oder wenigstens eingerichtet hätte. Aber das erfordert dann die ergänzende Fiktion, eine solche Welt so zu betrachten, als ob die durch jenen höheren göttlichen Geist geschaffene Ordnung durch eine entgegengesetzte Kraft gestört werde.

15. Nach einem Sinn der Welt zu fragen, hat keinen Sinn, es gilt das Wort von Schiller: ,,Wisset, ein erhabner Sinn legt das Große in das Leben, und er sucht es nicht darin.“ (,,Huldigung der Künste“ 1805.) Dies ist positivistischer Idealismus.

(Hans Vaihinger, Selbstdarstellung, in: Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Hrsg. von Raymund Schmidt. Zweiter Band. Leipzig 1921, S. 200-202)